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Logbuch

Ehrenamt und Demokratie

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« regelmäßig eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von David J. Becher:

LOGBUCHEINTRAG 0.46

Es grünt so grün, wenn Wodebuen! Wenn was? Na, Wodebuen! Die Woche des bürgerschaftlichen Engagements. Das Zentrum für gute Taten ruft, und ganz Wuppertal präsentiert an allen Ecken und Enden, wo es Engagement gibt und wo man sich engagieren kann. Gleichzeitig lese ich täglich auf Twitter (oder halt jetzt ‚X‘), dass die Gesellschaft auseinander driftet, niemand mehr das sagen oder machen darf, was sie oder er will und das überhaupt die Demokratie mindestens kaputt, vielleicht sogar am Ende sei. 

Ich sehe da einen Zusammenhang: Wenn ich zur Utopiastadt rüber gehe, treffe ich dort stets auf Leute, die sehr anders drauf sind, als ich. Die sehr anders mit Dingen umgehen, als ich. Die teilweise sehr andere Meinungen haben – und mit denen ich vermutlich außerhalb von Utopiastadt kaum mehr als ein höfliches »Guten Tag« gewechselt hätte. Und weil wir hier in der Kolumne ja unter uns sind, gehe ich noch einen Schritt weiter und verrate Euch (bitte sagt’s nicht weiter!): Da sind gelegentlich sogar Menschen bei, die ich irgendwie doof finde und deren Meinung ich für, gelinde gesagt, höchst zweifelhaft halte. Wenn ich solchen Meinungen auf Twitter begegne, bin ich schnell auf Widerstand gebürstet.

Aber hier, hier vor Ort, treffen wir uns ja nicht nur von Angesicht zu Angesicht, hier treffen wir uns vor allem bei Tätigkeiten, die der Allgemeinheit zu Gute kommen. Wir sanieren Räume für alle, wir besorgen Flächen für alle, wir organisieren Reparaturcafés oder Quartierskonferenzen für alle – und ganz neu gibt es im Hutmacher einen Bücherschrank für alle. Immer stecken da verschiedene Menschen, manchmal auch nur Einzelne dahinter, die sich mit Engagement, Herzblut und ziemlicher Vehemenz dafür einsetzen, dass das Quartier für alle etwas besser wird. Also finde ich jede und jeden von denen erstmal gut, nett, richtig und wichtig. Selbst, wenn sie Sachen sagen, die ich für verkehrt halte. Oder eine vollkommen andere Meinung vertreten, als ich. Auf Twitter würde ich nur diese Meinung lesen. Im gemeinsamen Engagement kriege ich ihre Haltung mit. Und sie meine. Eine viel bessere Grundlage, um dann über Meinungen zu diskutieren, meinetwegen auch zu streiten. Schließlich gehört zur lebendigen Demokratie auch der Streit über verschiedene Meinungen. Aber um das vernünftig zu üben, müssen wir Orte haben, an denen wir uns außerhalb unserer Freundeskreise und Schrebergärten und Stammtische begegnen können. Und zwar aktiv begegnen: Mit Tat und mit gegenseitigem Rat. Indem wir zum Beispiel Fenster sanieren und uns jemand sagt, wie das geht. Oder Fahrräder verleihen und dabei mit Hinz und Kunz ins Gespräch kommen. Oder beim Reparieren einer Hose im Nähtreff über die FDP diskutieren. Denn ich bin feste davon überzeugt: Wenn wir die Demokratie sichern wollen, dann geht das am Besten an Orten, wo wir privat sehr anderen Menschen begegnen. Und dabei irgendetwas produktives tun. Kurz: Die Demokratie retten wir am besten beim gemeinsamen Unkraut jäten. Utopiastadt ist ein Ort dafür.


Erstveröffentlicht am 14.09.2023 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/logbucheintrag-046-ueber-ganz-unterschiedliche-menschen-die-in-der-utopiastadt-aufeinandertreffen_aid-97651231