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Logbuch

Bildet Informationsfahrgemeinschaften!

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Benedikt Matthes:

Logbucheintrag 0.23

In der letzten Kolumne ging es um den Verkehrswandel. Davor um smarten Umgang mit Daten. Wir in Utopiastadt denken Dinge gerne in Zusammenhängen – was also ist mit smartem Verkehr? Die Stadt Frankfurt am Main will Lärm und Schadstoffe im Straßenverkehr reduzieren, in dem sie eine App herausgibt (trafficpilot), welche abhängig von Position und Fahrtrichtung die Geschwindigkeit anzeigt, die man einhalten sollte, um an der nächsten Ampel nicht bei Rot stehenbleiben zu müssen. 441 Lichtzeichenanlagen schicken dafür Daten in die Verkehrsleitzentrale, wo die Informationen ausgewertet und aufbereitet werden. Die App hat rund 256.000 Euro gekostet und wurde leider nicht als Open Source herausgegeben. Schade, denn immerhin sind nicht wenige öffentliche Mittel dafür ausgegeben worden. Gut hingegen finde ich, dass diese App auch von Radfahrenden genutzt werden kann. Toll, dachte ich, das will ich hier in Wuppertal auch haben. Schnell war mein Smartphone gezückt, die Twitter-App geöffnet, der Account der Stadt Wuppertal adressiert und … dann hielt ich inne. Denn eine fancy, aber geschlossene App, die immerhin Positionsdaten ihrer Nutzenden erhebt und in den Datenschutzbedingungen Versprechungen macht, die man nicht unmittelbar nachprüfen kann, macht den Verkehr einer Stadt noch lange nicht smart.

Dies tun, ich sagte es vor 4 Wochen schon, nur Menschen. Und daran mangelt es auch im Verkehrsdezernat, welches besser ausgestattet gehört. Wenn Herr Slawig Anfang Januar im lokalen Radio behauptet, die Stadt könne sich die Verkehrswende nicht leisten, lässt er dabei außer Acht, dass es uns noch viel teurer zu stehen kommt, wenn wir so vehement auf die Auto-Zentrierung in der Stadtentwicklung beharren. Der Klimaschutz wird in dieser Argumentation ebenso außer acht gelassen wie soziale Faktoren insbesondere in einer Innenstadt. Ein vernünftig ausgestattetes Verkehrsdezernat hat die Zeit und damit die Möglichkeiten, den Verkehr ganzheitlich und neu zu denken – jenseits von kleinen und symbolischen Modellversuchen, wie wir gerade einen am Laurentiusplatz betrachten können und wo auch gerade die Autofahrenden am lautesten gegen den Modellversuch agitieren. Wirklich smart wird unsere Stadt nicht, wenn wir nicht mutiger und offener für neue Wege der Gestaltung sind. Herr Slawig sollte nicht das kommende Bürgerbeteiligungsverfahren für ein neues Mobilitätskonzept von vornherein mit solchen Äußerungen torpedieren und die Bürger*innen entmutigen, daran teilzunehmen.

Der Hersteller von Trafficpilot listet auch Wuppertal auf seiner Seite mit dem Hinweis »im Aufbau«. Ich hoffe jedoch nicht, dass die Stadt trafficpilot bloß marketingwirksam adaptiert, sondern die Datenbasis als offene Daten herausgibt – die die App dann gerne verwenden kann, die aber andererseits auch neue Formen der Wissenschaft, nämlich Bürger*innen-Wissenschaft (Citizen Science) und damit sachlichere Debatten möglich machen.

Das wäre smart.

Am 5. März ist Open Data Day 2022. Mehr dazu in Kürze auf opendatal.de.


Erstveröffentlicht am 24.02.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/bildet-informationsfahrgemeinschaften_aid-66552375

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Logbuch

Wenn Autos den Verkehr blockieren

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Christoph Haberer und David J. Becher:

Logbucheintrag 0.22

Niemand steht gerne im Stau. Und doch setzen sich viele Menschen immer wieder hinters Lenkrad und stellen sich zu den hunderten anderen Autos in den Stau oder die Schlangen vor Ampeln. Und stehen damit sich selbst und allen anderen Verkehrsteilnehmer:innen im Weg. Mit anderen Worten: Autos blockieren den Verkehr.

Ganz nüchtern betrachtet sagen die einschlägigen Statistiken, dass rund die Hälfte aller Autofahrten kürzer sind als 5 km. Die Gründe, ein Auto zu nutzen, sind dabei wohl eher emotional als rational: Bequemlichkeit, Widerwillen gegen Bus und Bahn, die eigene Komfortzone, lieber sitzen als sich bewegen, gefühlte Sicherheit, das Ausführen eines Statussymbols, das Gefühl von Freiheit, Werbeversprechen – und natürlich das, was rationalen Entscheidungen am häufigsten im Wege steht: Gewohnheit.
Würden wir uns rational verhalten, müssten wir Verkehrsmittel wählen, die für Kurzstrecken wesentlich geeigneter wären. Ein Großteil der Autofahrten würde wegfallen und denen, die tatsächlich notwendiger Weise im Auto unterwegs sind, nicht den Verkehrsraum blockieren.

Aber auch Autos, die gerade nicht zuverlässig im Stau untergebracht sind, sind eine Last für den Verkehr. Feuerwehr oder Müllabfuhr auf dem Ölberg können mehrstrophige Klagelieder von zugeparkten Straßen singen. Sogar der Busverkehr wird dort regelmäßig von abgestellten Autos aufgehalten. Kurz: Offensichtlich gibt es in der Stadt zu viele Autos.

Und hier schlagen wir den Bogen zu Utopiastadt: Dort hat die IG Fahrradstadt-Wuppertal (FSWPT) Radfahrende auf der Nordbahntrasse gezählt. Teilweise sind davon dort über 1000 pro Stunde unterwegs. Und das ohne Stau. Die Trasse kann also genauso viele Menschen bewegen wie eine Autostraße. Hat aber nur die halbe Breite, verursacht bloß einen Bruchteil der Lärm- und Feinstaubemissionen und keinerlei Schadstoffemissionen (von der heißen Luft mal abgesehen, wenn sich Politiker:innen dort für Pressefotos mal aufs Rad setzen …).
Wer hier seine Autofahr-Routine mal vorsichtig verlassen und sich auf dem Rad ausprobieren will, kann das in den Sommermonaten beim spendengetragenen Radverleih tun. Und wer tatsächlich logistische Bedarfe auf’s Fahrrad verlagern will, kann das mit der Lastenrad-Flotte von Utopiastadt und FSWPT das ganze Jahr erledigen. Sollte darüber hinaus doch mal ein Auto nötig sein, gibt es auf dem Bahnhofsvorplatz eine Carsharing-Station. Und Bushaltestellen sind auch nicht weit.
Natürlich sind noch viele Fragen zum Verkehrswandel offen. Wer dabei mitdiskutieren will, kann das zum Beispiel heute Abend um 18:30 Uhr bei der Quartierskonferenz zu Mobilitätsstationen tun. Anmeldung unter https://mobilstationen-im-quartier.de

Auch diejenigen, die wirklich aufs Auto angewiesen sind, sollten sich schon aus purem Egoismus dafür einsetzen, dass alle anderen Verkehrsmöglichkeiten, gute Fuß- und Radwege sowie die ÖPNV-Infrastruktur massiv ausgebaut werden. Denn alle, die vom Auto auf Bus oder Fahrrad umsteigen, stehen nicht mehr vor einem im Stau.


Erstveröffentlicht am 10.02.2022 in der Printausgabe der WZ:
https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/wenn-autos-den-verkehr-blockieren_aid-66106659

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Logbuch

Wann ist eine City smart?

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Benedikt Matthes:

Logbucheintrag 0.21

Mit einer Smart City assoziieren viele Menschen zuerst eine durchdigitalisierte Stadt. In einer solchen Stadt kaufen die Menschen Bustickets mit dem Smartphone, kontrollieren mit demselben Endgerät den Flußpegel, reservieren sich eine Karte fürs städtische Theater und nehmen an Bürgerbeteiligungsverfahren teil, indem sie für oder gegen etwas stimmen, was die Lokalpolitik und/oder Stadtverwaltung nicht einfach so verordnen oder machen will. Überwachungskapitalist*innen führen auch gerne die smarte Straßenlaterne an, die nicht bloß leuchtet, wenns dunkel wird, sondern auch noch Videoüberwachung enthält, welche mit Fußgängererkennung, Kfz-Kennzeichenleser, Umweltsensoren, ein Mikrophon mit Schuss-Detektor und einen Location-Beacon zum Erfassen der Position aufwarten. Wenn dann noch ein freies WLAN dazu kommt, mit dem man die Position des Smartphones sehr sauber und präzise erfassen kann, sind verkehrsmittelübergreifende Bewegungsprofile zum greifen nah. Informationen, auf die bislang aus gutem Grund nur Ermittlungsbehörden unter Richtervorbehalt Zugriff hatten. Diese Idee der Smart City hat völlig zu Recht den Big Brother Award 2018 gewonnen. Diese Idee von Smart City ist das Gegenteil dessen, was entscheidungsfreudige und engagierte Menschen ausmacht.

Denn machen all diese Bequemlichkeiten für Menschen wie Behörden eine Stadt wirklich intelligent? Intelligenz ist, gelinde gesagt, überdurchschnittlich wenigen Gegenständen vergönnt, sondern allenfalls uns Menschen. Menschen machen eine smarteStadt intelligent, schlau, aber auch elegant, wenn ich meinem Englisch-Wörterbuch glauben darf. Damit wir Menschen aber intelligente Entscheidungen treffen können, bedarf es Informationen. Über die Menge und Genauigkeit von Informationen, die für mündige Entscheidungen nötig sind, wird seit jeher viel und leidenschaftlich gestritten, auch in unserer Stadt. Offene Daten sind dafür ein Mittel, niemals Selbstzweck. Welche Erkenntnisse gewinnen wir als Bürger*innen einer Stadt aus den offenen Daten, die sie bereits auf offenedaten-wuppertal.de bereitstellt? Welche Daten fehlen noch, um auf bestimmte Fragen bessere Antworten finden zu können? Müssen lediglich die Stadtverwaltung und ihre kommunalen Betriebe Zuliefernde für allerlei (nicht personenbezogene) Daten sein, oder können oder sollen dies womöglich auch die Bürger*innen einer Stadt sein? Und wenn ja, welche Daten können das sein? Welche Sensoren sind dafür geeignet? Welche Darstellungsmöglichkeiten bieten sich an? Und welche Daten helfen Wuppertal schlussendlich, zu einer intelligenten, eleganten Stadt zu werden? Eine Stadt, die ihre Mobilitätsprobleme nicht allein mit fancy Apps lösen will, sondern auch mit mehr Radwegen und mit engerem Austausch zwischen allen Menschen, die das Miteinander im Straßenverkehr aktiv mitgestalten wollen. Wirklich intelligent wäre, all dies zusammen zu führen und einander zuzuhören. Lasst es uns versuchen – am Open Data Day, 5. März 2022.


Erstveröffentlicht am 27.01.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/logbucheintrag-021-wann-ist-eine-city-smart_aid-65678823

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Logbuch

Gute Vorsätze – oder wenn es mal wieder länger dauert.

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Amanda Steinborn:

Logbucheintrag 0.20

Was wäre der Start ins neue Jahr ohne gute Vorsätze? Mehr Sport, gesünder essen, mal Urlaub machen oder Anderen Gutes tun. Die Liste ist lang und meistens flüchtig.

Gute Vorsätze eigenen sich hervorragend dafür, das soziale Gewissen zu stärken. Oft landen sie auf To-Do Listen, die immer länger werden, und bei denen klammheimlich irgendwann ein paar Punkte hinten runter fallen. Hier sorgt das leider schon mal dafür, dass ein Fahrrad trotz bester Vorsätze unverliehen oder eine Mail unbeantwortet bleibt.

Welchen Sinn haben sie also, die guten Vorsätze? Warum nicht einfach frei machen davon?

Ich nehme mir grundsätzlich zu viel vor. Meistens geht es dabei nicht darum, etwas für mich zu tun, sondern hier noch ein Projekt zu machen oder dort noch Hilfe anzubieten. Oft merke ich zu spät, dass der Tag nur 24 Stunden hat und ich nicht alle aufgebauten Erwartungen erfüllen kann. Trotzdem ist es mir wichtig, weiterhin den guten Vorsatz zu behalten, mich nicht nur für mich, sondern auch für Andere zu engagieren. Das sogenannte Ehrenamt begleitet schon so lange mein Leben, dass es mir nicht nur in den Blutkreislauf übergegangen ist, sondern ich mich auch schon früh entschieden habe, es strukturell in meinen Alltag einzubauen. So kam für mich beispielsweise nie in Frage, eine Festanstellung in Vollzeit anzunehmen, damit mir Raum für Engagement bleibt – bezahlt oder unbezahlt.

Meine Motivation dahinter ist intrinsisch. Ich habe das tief verankerte Gefühl, der Gesellschaft etwas geben und einen aktiven Beitrag zum Gemeinwohl leisten zu wollen, ohne dass dies für mich zu einem direkten Vorteil führt. Diese Einstellung muss mensch sich leisten können: Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass unser System sie mir zum einem ermöglicht und zum anderen ausnutzt, indem große Teile der Gesellschaft ohne Ehrenamt vollkommen zusammenbrechen würden. Mein guten Vorsätze führen mich also in das Paradox, gebraucht und ausgenutzt zu werden. Trotzdem ist es meine freie Entscheidung, mich einzubringen und zu engagieren.

In einer auf Basis von Lohnarbeit durchgetakteten Welt entsteht dabei oft auch im Ehrenamt der Druck von außen, alles zeitnah und komplett zu erledigen.
Um meine guten Vorsätze in die Tat umsetzen, ist Motivation der Motor, der mich antreibt. Doch Motivation braucht Zeit, sie hat ihren eigenen Rhythmus. Zu viel Takt nimmt ihr die Luft. Ehrenamt funktioniert nach anderen Regeln, weil es eben nicht nur um die Erledigung von Aufgaben, sondern um ein Gefühl von Verbundenheit oder Gemeinschaft, die Steigerung des Selbstwertes oder andere innere Bedürfnisse geht. Natürlich kann die Motivation durch äußere Gegebenheiten gefördert werden. Der eigentliche Antrieb kommt jedoch von innen. Dabei hält sich der eigene Rhythmus nicht immer an den Takt, den die Welt nach außen vorgibt.

So ist es richtig, dass Ehrenamt eben auch mal länger dauert – oder nicht alle Räder gewartet und im Verleih sind. Aber im Frühjahr sind sie wieder auf der Straße. Das ist zumindest unser fester Vorsatz.


Erstveröffentlicht am 13.01.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/gute-vorsaetze-fuer-das-neue-jahr-oder-wenn-es-mal-wieder-laenger-dauert_aid-65258235

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Wie wichtig darf Ehrenamt sein?

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Richard Joos:

Logbucheintrag 0.19

Freudiger Kolumnenanlass: Beim Engagementpreis NRW 2021 hat Utopiastadt zu Nikolaus den Sonderpreis der NRW-Stiftung gewonnen. Das diesjährige Motto lautete »Engagierte Nachbarschaft«, und dazu passt Utopiastadt. Tags zuvor am 5.12. war der »Tag des Ehrenamts«, im Sommer war Flutkatastrophe, seit zwei Jahren ist Coronakrise, Engagement und Ehrenamt ist offensichtlich notwendiger und wichtiger denn je.

Ehrenamt ist aber nicht nur wichtig: es macht Spaß, stiftet Sinn und Gemeinschaft. Es macht sich sogar gut in Lebensläufen. 30 Millionen Bürger engagieren sich in Deutschland 5 Milliarden Stunden lang pro Jahr. Das berichtet der Bundesverband der Vereine und des Ehrenamtes. Mehr würde aber auch nicht schaden. Was hält die Nicht-Engagierten ab?

Freiwillig tätig zu sein, ist in mancher Hinsicht ein Privileg – denn man braucht entsprechende Ressourcen in Sachen Zeit, Kompetenzen und passender Infrastruktur. Wer ist neben den Alltagsverpflichtungen und diversen Flexibilitätszwängen präsent und frei genug, um sich in Strukturen einzubinden? Sich »flexibel zwei Stunden engagieren«, wie man zwei Stunden ins Fitnessstudio geht, ist selten möglich. Und mit mancher Tätigkeit übernimmt man eben auch Verantwortung und Verpflichtungen. Wer hat davon nicht ohnehin schon genug?

An der Stelle kann Ehrenamt auch durchaus zu wichtig werden. Dass freiwilliges Engagement Härten abfedert, die der Kahlschlag im Sozialbereich hinterlassen hat, ist keine neue Erkenntnis. Freiwillige Arbeit versorgt seit langem auch existenzielle Bereiche. Zwar sei die Sicherung des Existenzminimums rechtlich garantiert. Es sollten demnach weder Tafeln noch Foodsharing nötig sein, um Menschen ausreichend mit Nahrung zu versorgen. Allein, sie werden betrieben, aufgesucht und sie werden für ihr Engagement geehrt. Dass parallel dazu das Retten weggeworfener Lebensmittel aus Containern kriminalisiert wird, ist eine bittere Pointe.

Dass bedürftigen Menschen von Amts wegen Beratung und Hilfe zusteht, ist gesetzlich geregelt. Zu viele Existenzen hängen aber von den ehrenamtlichen Hilfen beim Formularausfüllen und bei Behördengängen ab, von freiwillig Aktiven, die Hilfsbedürftigen die notwendigen Informationen überhaupt erst liefern. Wenn hoheitliche Aufgaben ins Ehrenamt ausgelagert werden, wenn Ehrenamt sozialstaatliche Aufgaben erfüllen muss, die zuständige Akteure nicht mehr wahrnehmen, dann ist das ein untragbarer Zustand.

Ehrenamt wird – für Tätige wie Unterstützte – auf sehr ungute Weise zu wichtig, wenn darauf nicht mehr ohne drastische Folgen verzichtet werden kann. Freiwilligkeit und Freude wird schnell zu Verpflichtung und Bürde, wenn das Ausbleiben der ehrenamtlichen Leistung Existenzen gefährdet.

Utopiastadt, immerhin, ist glücklicherweise ein angenehmes Ziel fürs Ehrenamt. Man kann sich engagieren. Und man kann es auch mal eine Woche lassen, ohne dass jemand in Existenznot gerät. Und das ist gut so.


Erstveröffentlicht am 15.12.2021 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/wuppertal-engagementpreis-fuer-utopiastadt_aid-64655859

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Logbuch

Erst träumen, dann machen!

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutge Kolumne ist von Lea Schöning:

Logbucheintrag 0.18

Wenn Beteiligungsformate für die Entwicklung einer Fläche von Kommunen organisiert werden, geschieht dies oftmals unter festen Maßgaben und engen Rahmenbedingungen. Vom Baurecht bis hin zum Brandschutz – bevor es überhaupt mit dem Nachdenken über die Gestaltung eines neuen Raumes losgeht, befindet man sich in einem Dschungel aus Regularien, Machbarkeitsstudien und Paragraphen. Viel zu häufig ist der Zielhorizont bereits abgesteckt und jede kreative Spinnerei, jede fantastische Vorstellung wird in nullkommanix zu Nichte gemacht. Zack – Die Realitätsfalle schnappt zu!

Sich aus Sachverhalten und Realitätsfragen zu befreien ist manchmal gar nicht so leicht. Doch sollten wir uns hiervon so einfach entmutigen lassen? Als unser Projektteam sich diesen Sommer an die Aufgabe wagte, einen Entwicklungsprozess zur Zukunft der Speditionshalle auf dem Utopiastadt Campus anzustoßen, standen wir vor eben dieser Herausforderung: Die Realität – ein großer Wellblechkasten ohne Fenster – schien zunächst weniger einladend für wilde Visionen und neue Utopien. Doch ein Blick hinter die Fassade regte die Wunschproduktion schnell an: 3500qm Fläche für kreative Manufakturen, handwerkliche Bildung und Gemeinschaft? Eine Pilzfarm, ein große Schaukel oder eine Rollschuhdisco?

Ich glaube, dass es wichtig ist die Phase des Träumens und Wünschens bei der Flächenentwicklung nicht zu übergehen. Indem wir ein Bild von einer wünschenswerten Zukunft entwerfen, erkennen wir, wo es im hier & heute hakt und was wir tun müssen, um unserer Wunschvorstellung näherzukommen. Ob es sich bei dieser Vorstellung um eine reine Utopie handelt, spielt dabei keine Rolle. Denn Visionen, Träume und Emotionen bilden die Basis und die Motivation für unser Handeln. Sie sind der Beginn jeder neuen Entwicklung. Sie sind unser Wegweiser, helfen mit Herausforderungen umzugehen und bilden die Blaupause für den nächsten Schritt in die Stadt der Zukunft.

Für unsere Träume brauchen wir Raum zum Experimentieren und Orte, an dem ein Diskurs eröffnet wird, wie wir miteinander leben wollen. Und wenn Neues entstehen soll, braucht es Raum für Ungeplantes. Solche Räume sind in unseren Städten rar geworden. Doch Utopiastadt ist einer davon: hier gibt es viel Raum – zum Beispiel eine 3500qm große Halle, die darauf wartet mit Visionen und Leben gefüllt zu werden. Im Rahmen eines Ideenwettbewerbs toben sich deshalb bis zum Jahresende fast 30 Teams mit ihrer geballten Kreativität an der Halle aus. Doch gibt es sicher weitere Träume zur Entwicklung der Halle.

Du hast Lust mitzuträumen?
Wir laden dich ein, deine Ideen und Wünsche für die Nutzung der großen Halle bis zum 12. Dezember mit uns zu teilen! Postkarten und ein blauer Ideenbriefkasten finden sich dafür vor dem Hutmacher am Bahnsteig. Ideen können ebenfalls online abgeschickt werden unter www.neue-urbane-produktion.de/ideenwettbewerb/ideenbriefkasten.

Luftaufnahme der Speditionshalle auf dem Utopiastadt-Campus neben der Nordbahntrasse am Bahnhof Mirke.
Foto: Thorben Kraft

Erstveröffentlicht am 02.12.2021 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/erst-traeumen-dann-machen_aid-64391975

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Logbuch

Wen laden einladende Plätze eigentlich ein?

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutge Kolumne ist von David J. Becher:

Logbucheintrag 0.17

Armut bekämpfen. Eine Parole, auf die sich vom alternativen Plenum bis zur konservativen Sonntagsrede fast alle Gesellschaftsschichten schnell einigen. Weil dabei aber wohl alle etwas anderes meinen und 3.000 Zeichen nicht ausreichen, das sorgfältig zu sortieren, schnappe ich mir nur einen Teilaspekt dazu in der Stadt- und Quartiersentwicklung.

Auch da taucht Armut als Thema auf. Und auch hier würden viele die genannte Parole unterschreiben. Was leider viel zu oft tatsächlich passiert, ist, dass nicht Armut, sondern eher Arme bekämpft werden. Mal offensiv durch deutliche Preissteigerungen bei saniertem Wohnraum, meist aber schleichend durch ein Verhalten, das Armut so beständig macht, selbst in einer der reichsten Gesellschaften der Welt: Ignoranz.

Ich bin sehr privilegiert. Ich hatte bis heute stets genug Zeit, Geld und Gelegenheiten für ein gutes Leben. Von familiärer Unterstützung und strukturellen Vorteilen durch Hautfarbe und Geschlecht hab ich da noch gar nicht geredet. Aber was ist mit meinen Nachbar:innen? Und wenn ich mir schon anmaße, über Beteiligung und Stadtentwicklung zu diskutieren – wie kann und muss ich die Bedarfe derer beachten, die aus struktureller Benachteiligung schlicht nicht die Gelegenheiten haben, überall mitzureden?

Diese Frage wurde mir beim Stadtentwicklungssalon zur Gold-Zack-Fabrik sehr präsent: Wir sprachen in einer Workshop-Runde angeregt über den Platz zwischen Gebäude und Wiesenstraße: Eine fast ausschließlich als Parkplatz genutzte Fläche ohne ansprechendes Entrée und mit vielen dunklen, verwucherten Ecken. Von uns rasch als ‚wenig einladend‘, ‚düster‘ oder ’schmuddelig‘ wahrgenommen. Mit der guten Lösung, dass bei Weiterentwicklung der Immobilie hier eine Öffnung mit viel einladenderem Charakter erreicht werden könnte. Viel einladender. Aber für wen eigentlich?

Wenn ich weder Geld hätte für übliche Freizeitaktivitäten, noch für Klamotten, die ich wirklich mag, wenn ich zudem keinen Wohnraum hätte, der mir ein angenehmes Zuhause bietet und mich ständig latent von der Gesellschaft abgelehnt fühle. Würde ich dann klassisch repräsentative Orte als wirklich einladend empfinden? Wären die ganzen freundlich und ansprechend hergerichteten Begegnungsorte tatsächlich auch freundlich zu mir? Damit möchte ich nicht behaupten, dass benachteiligte Menschen Schmuddelecken wollen, ganz im Gegenteil! Aber wenn wir aus privilegierten Impulsen offene Räume gestalten, dann werden sie möglicherweise nur auf uns Privilegierte offen wirken.

Und wenn wir in unseren Quartieren immer mehr Räume so verändern, dass wir zunehmend weniger Menschen wahrnehmen, die von Armut betroffen sind – spätestens dann müssen wir dreimal so genau hinsehen, was wir mit der Gestaltung eigentlich bekämpft haben. In zu vielen Fällen ist es nicht die Armut.


Erstveröffentlicht am 18.11.2021 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/wuppertal-wen-laden-einladende-plaetze-eigentlich-ein_aid-64161923

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Über die Pandemie, 2G und Solidarität

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutge Kolumne ist von Lana Horsthemke:

Logbucheintrag 0.16

Nach über 1,5 Jahren Covid-19 ringen wir auch in Utopiastadt immer wieder um den richtigen Umgang mit der Pandemie. Wie gehen wir mit den G-Regeln um? Wie erhalten wir barrierearmen – und sicheren – Zugang zu Utopiastadt, zu Kulturveranstaltungen und Gastronomie?

Für Gastronomie und Veranstaltungsorte hat die Stadt Wuppertal Ende September eine klare Empfehlung ausgesprochen, nur noch geimpften oder genesenen Personen Einlass zu gewähren und die 2G-Regel für einige städtische Veranstaltungen und Gebäude selbst eingeführt. Wir haben uns in Utopiastadt, wie viele andere, gegen 2G entschieden. Nicht aus ökonomischen Gründen, sondern weil wir ungeimpfte Menschen nicht ausgrenzen wollen. Unter Abwägung des Möglichen war 3G dabei der Weg, der am wenigsten Ausschluss zur Folge hatte – nur ist auch 3G ein Kompromiss. Die Tests sind nicht mehr kostenfrei und viele können sie sich einfach nicht regelmäßig leisten – und selbst wenn, dann bleibt für sie das gesundheitliche Risiko, weil sich alle anderen kaum noch testen und auch geimpfte infektiös sein können. Eine 1G-Regel (getestete) würde alle gleichermaßen schützen – nur ist das finanziell einfach nicht zu stemmen. Im Ergebnis schließt auch 3G Menschen aus.

Ich kenne selbst Menschen, die sich aus Unsicherheit, Angst oder anderen persönlichen Gründen nicht – oder noch nicht – haben impfen lassen, und mir fehlt zu dem Thema eine breite Debatte. Was passiert, wenn meine ungeimpfte Freundin weniger unter Menschen geht, weil sie sich die Tests nicht oft leisten kann und dann noch misstrauisch beäugt wird, wenn sie ihr Testergebnis zeigt? Wer geimpft ist, ist zwar nicht von Ausschluss betroffen. Aber ist sozialer Druck wirklich der Weg, den wir gehen wollen, um Menschen zum Impfen zu bewegen? Müssten wir nicht in der Lage sein, einen anderen Weg zu finden, als Ausschluss?
Wir müssen uns damit beschäftigen, was das mit uns macht. Politisch, und auch persönlich. Was fühlen und denken wir, wenn uns jemand sagt, dass er geimpft oder nicht geimpft ist? Wir müssen im Gespräch bleiben und unbedingt versuchen, einen differenzierteren Blick auf ungeimpfte (und geimpfte) Menschen zu bekommen, als uns darüber in Kategorien von »solidarisch« und »unsolidarisch« einzuteilen. Und ich glaube, wenn wir ins Gespräch gehen, wird klar, dass die eigentliche Frage ist: Wie solidarisch wollen wir sein?

Ich bin froh, dass sich viele Gastronom:innen gegen die strengere Regel entschieden haben – trotzdem bleiben die ausgrenzenden Komponenten, von denen nicht Geimpfte oder Genesene betroffen sind. Der Umgang damit wird momentan weitestgehend der Gesellschaft überlassen – und damit Orten wie Utopiastadt. Und während wir im Büro einfach weiter Maske tragen und Kontaktverfolgung organisieren können, lässt sich das in der Gastronomie und bei Veranstaltungen nicht so einfach regeln. Auch, wenn das Thema uns allen schon lange aus den Ohren herauskommt: Wie wir damit umgehen, wird uns prägen – und das ist jede Debatte wert.


Erstveröffentlicht am 04.11.2021 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/logbucheintrag-016-ueber-die-pandemie-2g-und-solidaritaet_aid-63864369

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Voneinander miteinander Lernen

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von Amanda Steinborn und Maximilian Schmies:

Logbucheintrag 0.15

Neulich hatten wir mal wieder einen Aha-Moment. Passiert uns übrigens öfter in Utopiastadt, dass wir etwas lernen.

Und das ist auch gut so: Denn der Weg in ein gemeinsames Utopia führt schließlich ins absolute Neuland. Und so tasten wir uns Schritt für Schritt voran. Zum Beispiel, wenn Benny und Ralf am Büchertresen über freie Software fachsimpeln und es bei mir ‚klick‘ macht. Oder wenn Canan und Lukas dir in der Werkstatt zeigen, wie man historische Fenster denkmalgerecht saniert. Oder wenn Katrin und Ilka im Fadenwerk aus alten Stoffresten einen schicken Turnbeutel zaubern. Und weil das bei uns so selbstverständlich ist, dass wir ständig bereit sind, mit- und voneinander zu lernen, merkt man kaum, wie man selbst über Nacht zur Expert:in heranreift. So wie die beiden Fensterfans, die vor einem guten Jahr zum ersten Mal den Stechbeitel in der Hand hatten und mittlerweile Neulinge anleiten.

In den Bildungswissenschaften gibt es dafür Fachbegriffe: Informelles Lernen, soziales Lernen und ganzheitliches Lernen. Ersteres geschieht ständig; wenn wir uns unterhalten, etwas aufschnappen oder ausprobieren. Zweiteres findet statt, wenn wir uns gemeinsam mit anderen an etwas Neues wagen und Vorbilder uns zum Nachahmen inspirieren. Und Letzteres meint das Lernen mit allen Sinnen, also nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit den Händen und dem Herz. Alle, die schon einmal ein Fahrrad repariert haben, wissen: Die Bauanleitung ist nichts wert ohne die Erfahrungen, die man beim Schrauben macht. Und das Gefühl, den liebgewonnenen Drahtesel eigenhändig wieder flott zu machen, ist sowieso unersetzlich.

Wir sind der Überzeugung, dass der Wandel in eine ökologisch nachhaltige und sozial gerechte Zukunft mehr braucht, als die Schulbank. Darum schaffen wir in Utopiastadt Freiräume zum Lernen und Experimentieren: etwa durch den Aufbau der Offenen Werkstatt und ein buntes Mitmach-Programm.

Selbstverständlich dreht sich dabei viel um’s Handwerken: Monatlich organisiert das Projekt ‚Neue Urbane Produktion‘ Workshops – nächste Woche zum 3D-Druck, im November werden Wurmkisten gezimmert. Eine komplette Weiterbildung im Bauhandwerk bietet das Projekt ‚DigIT_Campus‘ an. Nicht zu vergessen die Fahrrad- und Elektrorreparaturcafés, Nähtreffs, Gartenbuddeleien und das Sanierungs-Workout wo garantiert niemand ohne Aha-Effekt nach Hause geht.

Auch der Kopf kommt nicht zu kurz: in Impulsabenden oder Stadtentwicklungssalons suchen wir Antworten rund um Gemeinwohl und Nachhaltigkeit. Und mit der CoForschungsrunde und der co-kreativen Gründungsberatung ‚PlanHaben‘ gibt es sogar zwei feste monatliche Formate, wo Forscher:innen und Macher:innen zusammenkommen, um gemeinsam neue Wege zu beschreiten.

Bist du bereit, mit uns den nächsten Schritt zu gehen und über dein nächstes ‚Aha‘ zu stolpern? Aktuelle Gelegenheiten finden sich unter www.utopiastadt.eu, auf unseren SocialMedia-Kanälen – und natürlich am Büchertresen.


Erstveröffentlicht am 21.10.2021 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/logbucheintrag-015-voneinander-miteinander-lernen_aid-63621825

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Logbuch

Eintopf, Solidarität und die StVO

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Die heutige Kolumne ist von David J. Becher:

Logbucheintrag 0.14

Am Tag der Deutschen Einheit spielen die Wuppertaler Sinfoniker traditionell ein Benefiz-Konzert. Letzten Sonntag für den Wuppertaler Solidarfonds für Kulturschaffende namens EinTopf.

Blick zurück: Schon bevor der erste Pandemie-Lockdown im März 2020 das Kunst- und Kulturgeschäft lahm legte, war uns in Utopiastadt bewusst: Hier kommen schwere Zeiten auf alle zu, die ihr Geld auf, an oder durch Bühnen verdienen. Andere empfanden ähnlich, und so trommelten wir früh eine große Runde Kulturschaffender in einer ersten Videokonferenz zusammen. Statt Ratlosigkeit machte sich Engagement breit, teilweise sicher auch Aktionismus – aber vor allem Solidarität. Denn so vielschichtig, unterschiedlich und oft auch widersprüchlich die Freie Szene in Wuppertal ist, so sehr war uns miteinander klar, dass es für alle schwierig wird. Und für einige bedrohlich. Also machten wir uns gemeinsam daran, neben dem lokalen Stream-Fenster https://stew.one einen Fonds für schnelle und unbürokratische Hilfe aufzusetzen. Das Freie Netz Werk Kultur stellte Konto und Website zur Verfügung, eine Liste zur Besetzung der ersten Jury-Runden war rasch gefüllt und das Kulturbüro war umgehend bereit, die Koordination der Jury-Sitzungen zu übernehmen.

Nun stellte sich die spannende Frage: Wer kann unter welchen Kriterien einen Antrag stellen? Im letzten Jahr habe ich vermutlich so viel über Solidarität geredet und nachgedacht, wie nie zuvor. Ich erinnere mich gut, wie zum Beispiel Ava Weis in einer Runde ein kurzes aber präzises und mich sehr überzeugendes Plädoyer hielt für eine grundsätzlich solidarische Haltung mit Offenheit, Anerkennung anderer Lebenswelten und einer Basis von Zuhören und Ernstnehmen. Andere meinten aber durchaus, dass Spenden aus beispielsweise einem Benefiz-Konzert doch schon solidarisch seien und Anträge ruhig deutlich normierten Bedingungen unterliegen sollten. Und mir wurde bewusst, dass wir nicht nur solidarisches Verhalten, sondern auch die Bedeutung des Begriffs immer wieder miteinander aushandeln müssen. Zumindest, wenn wir uns eine bessere Welt nicht gegenseitig verordnen, sondern sie gemeinsam entwickeln wollen.

Was zum Glück beim EinTopf nie geäußert wurde, ist die seltsame Behauptung, Solidarität sei keine Einbahnstraße. Eine Aussage, die ich schon immer irgendwie falsch fand. Und seit ich im letzten Jahr so viel darüber nachgedacht habe, weiß ich jetzt auch, warum: Wenn Solidarität überhaupt etwas in der Metapherabteilung der Straßenverkehrsordnung zu suchen hat, ist Solidarität vermutlich am ehesten ein Kreisverkehr: Irgendwo kommt was rein, irgendwo anders wieder raus. Überall, wo was rein kommen kann, kann auch wieder was raus kommen, und in der Regel ist es nicht sinnvoll, dort wieder raus zu fahren, wo man reingefahren ist. Ohne eine vollständige Umkreisung kommt man dort auch gar nicht wieder an. Denn so ein Kreisverkehr, so eine bedarfsgerechte Rundumverteilung, ist kein direktes Hin und Her – sondern eine Einbahnstraße.

Infos: https://eintopf-wuppertal.de


Erstveröffentlicht am 07.10.2021 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/eintopf-solidaritaet-und-die-strassenverkehrsordnung_aid-63376849