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Logbuch

Siebdruck mit Vorlauf

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« regelmäßig eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von Richard Joos:

Logbucheintrag 0.43

Zehn Jahre ungefähr sei es her, dass aus inzwischen unbekannter Quelle eine recht komplette Siebdruck-Werkstattausrüstung in Utopiastadt abgestellt wurde und seitdem vor allem von A nach B wanderte. So lautete eine Anmerkung beim letzten Utopiastadt-Jour fixe, in dem die feierliche, offizielle Inbetriebnahme besagter Siebdruckwerkstatt zu Fronleichnam angekündigt wurde. Denn seit einiger Zeit schon steht die Ausrüstung tatsächlich in einer Werkstatt und absolvierte die ersten erfolgreichen Belichtungen und Testdrucke.

Was wie eine eher zähe Umsetzung eines Plans aussieht, ist bei näherer Betrachtung eine interessante Rückblende. Am grundlegenden Problem – eine Siebdruckwerkstatt braucht einen dauerhaften Platz mit passender Infrastruktur – hat sich über die Zeit wenig geändert. Die Lösung – man schafft einen solchen Platz – war abhängig von einer Menge Vorarbeiten. Konkret: der Sanierung der alten Gepäckabfertigung, die beharrlich fortgesetzt wurde, bis nun besagte Werkstatt aufgebaut und in Betrieb genommen wurde. Bis dahin wurde die Ausrüstung in jahrelanger (ehrenamtlicher) Umräumlogistik jeweils dorthin verfrachtet, wo sie angesichts diverser Sanierungs- und Platzanforderungen bleiben konnte. Sie legte gelegentliche Gastauftritte in Form von Deko-Elementen im Wartesaal dritter Klasse ein, um nun vollfunktional wieder in Betrieb genommen werden zu können, nachdem die Standortfrage kurzerhand per Gebäudesanierung gelöst wurde. Eine von vielen Ressourcen, die nach langem Lager-Dornröschenschlaf nun wieder in Aktion tritt, nach bewegten Jahren in einer sich in permanenten Umbau befindlichen Umgebung.

Schön: dass im Sinne einer nachhaltiger gestalteten Zukunft hier eine »Das kann man aufheben und wieder in Betrieb nehmen«-Strategie bestens funktioniert hat – in einer Zeit, wo oft genug weggeworfen und irgendwann neu gekauft wird. Noch besser aber: die Geschichte markiert einen dieser Wendepunkte, die viele aus Renovierungen oder Umzügen kennen.

In diesen Prozessen wird immer ein Punkt erreicht, an dem das Gefühl vorherrscht, dass trotz viel geleisteter Arbeit die Situation insgesamt immer nur chaotischer und unwohnlicher wurde und alles, was man tut, zu diesem Effekt weiter beiträgt. Irgendwann nach diesem Punkt kristallisiert sich eine Veränderung heraus: Dinge beginnen, neue Formen anzunehmen, Ecken, Räume lassen auf einmal erahnen, wie sie aussehen sollen, die ersten Bereiche nehmen die Form an, die man eigentlich angestrebt hat. Ab dann wirds schön.

Nun ist in einem andauernden Gesellschaftskongress mit Ambitionen und Wirkung ohnehin immer vieles bis alles im Fluss, laufen zahlreiche Aktivitäten trotz, wegen oder auch unabhängig von Umzugs- und Renovierungsaufwand permanent mehr oder weniger um die Unordnung herum – Kristallisationspunkte neuer Ordnungen und Möglichkeiten sind umso erfreulicher. Einer nun nach zehn Jahren Hängepartie, andere werden (auch mit kürzeren Vorlaufdauern) folgen.

Wir haben eine Siebdruckwerkstatt in Utopiastadt. Wer eine nutzen mag: gerne anfragen!


Erstveröffentlicht am 15.06.2023 in der Printausgabe der WZ.

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Logbuch

Schaffe, schaffe, Städtle bauen

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« regelmäßig eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von Amanda Steinborn:

Logbucheintrag 0.42

Hier ist ja immer was los. Neulich haben wir zum Beispiel begonnen, gemeinsam mit Nachbar:innen, einen Durchgang von der Hamburger Treppe zum Utopiastadt Campus freizulegen. Im Zeitungsbericht dazu fiel der Satz »Man räumt gefühlt Müll weg und hilft in Wirklichkeit bei der Stadtentwicklung«. Darüber musste ich direkt weiter nachdenken:

Was ist daran Stadtentwicklung, wenn Ehrenamtliche Brennnesseln mähen, Müll wegräumen, Wege ebnen oder einen Garten herrichten? Ist Stadtentwicklung nicht Gewerbegebiete ausweisen, Straßen bauen und benennen oder Parkplätze planen? Und ist dafür nicht die Stadt zuständig?

Auch, aber eben nicht nur. In Utopiastadt sind wir überzeugt, dass Stadtentwicklung partizipativ funktioniert. Also nicht nur für, sondern vor allem von und mit den Bürger:innen. Das kann über Bürgerentscheide oder Diskussionsforen laufen, aber eben auch über Selbstbestimmung und Mitarbeit. Indem wir gemeinsam erstmal nur einen kleinen Durchgang zwischen Hamburger Straße und den Campus-Flächen herrichten, nehmen wir Einfluss auf die langfristige Entwicklung der Wegführung und geben der Bedeutsamkeit des Fußgängerverkehrs Raum. Wir zeigen, dass wir für eine Mobilitätswende alle Teilbereiche mitdenken müssen – gerade auch in der Stadtplanung und –entwicklung.

Der Utopiastadt Campus ist ein Ort von Vielen für Viele. Durch seine zentrale Lage besteht hier die Möglichkeit, unser gemeinsames Wuppertal mitzuformen. Denn was immer hier in Zukunft passieren wird, welche Wege hier lang führen, es wird das Quartier Mirke, die Nordstadt und damit Wuppertal beeinflussen. Um das zu erreichen, braucht es gemeinsame Planung und gemeinsame Tatkraft. Letzten Samstag waren auch neue Gesichter dabei. Gesichter von Menschen, die ganz persönlich Interesse daran haben, einfacher von ihrem Wohnort zur Trasse zu kommen. Aber auch Leute, die sich gerne einsetzen, damit die Stadt für alle besser wird. 

Neben solchen Sonderaktionen treffen sich jeden Samstag mutige Utopist:innen, um mit Schwung und Entschlossenheit Gebäude oder Flächen für alle herzurichten – und damit praktische Stadtentwicklung zu leisten. Denn besonders wirksam wird so eine Entwicklung, wenn möglichst viele von den Ergebnissen profitieren können.

Und so tragen die Anpacker:innen hier Stadtentwicklung vom Reißbrett zur Gartenschere, Hacke, Hobel, Schleifer und Kelle. Sie placken und schuften ehrenamtlich dafür, dass Orte entstehen, die alle nutzen können. Damit der Campus sich weiter dem nähert, was er im Namen trägt: Einer Utopie. Es geht dabei nicht um einen strikten Plan, sondern um Visionen, wie wir in Zukunft Städte gemeinsam gestalten wollen.

Jede große Vision braucht viele kleine Schritte und Helferlein, die sie umsetzen wollen. Also treffen wir uns in Zukunft weiter jeden Samstag, arbeiten an an der partizipativen Stadt(entwicklung) und freuen wir uns über jede Unterstützung, ob mit Handschuhen oder ohne. Samstags, 11 Uhr, Treffpunkt am Bahnsteig: Wir bauen gemeinsam eine Stadt, wir bauen Utopiastadt.


Erstveröffentlicht am 11.05.2023 in der Printausgabe der WZ.

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Logbuch

365 Tage der offenen Tür

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« regelmäßig eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von David J. Becher:

Logbucheintrag 0.41

Am ersten April gab es in Utopiastadt einen »Tag der offenen Tür«. Ich selber war zum größten Teil der Vorbereitungen beruflich sehr eingespannt und daher nur ganz am Rande beteiligt. So überraschte mich zunächst die Entscheidung, das Zusammentreffen und Vorstellen vieler Projekte und Initiativen in Utopiastadt tatsächlich einfach »Tag der offenen Tür« zu nennen. Schließlich ist Utopiastadt als andauernder Gesellschaftskongress eine grundsätzlich offene Einrichtung und jeder Tag ein Tag der offenen Tür. Doch genau das einmal besonders hervorzuheben, war eine rundherum richtige Entscheidung. 

Als der Wetterbericht von Tag zu Tag deutlicher machte, dass wir uns dabei auf einen vollkommen verregneten Samstag einstellen müssen, wurden die Gesichter lang und länger. Schließlich sagt die Erfahrung, dass das ‚mal  schauen, was die da so machen‘-Publikum meist auch ein Schönwetterpublikum ist. Also begann ich mich mental darauf einzustellen, mich schlicht darüber zu freuen, dass so viele Utopist:innen gleichzeitig vor Ort sind. (Das hat sich nach den vielen Pandemie-Einschränkung so nachhaltig zerstreut, dass es längst nicht mehr so automatisch passiert, wie bis Anfang 2020.) Und das wir so gemütlich Gelegenheit haben, uns einen Tag einfach ohne weitere Arbeitsagenda zu treffen. 

Und dann kamen Leute. Das öffentliche Coforschungs-Kolloquium im Hauptgebäude war voll besucht und zeigte,  dass akademisch anspruchsvolle Forschung keinesfalls unverständlich für Menschen ohne Hochschulbildung diskutiert werden muss. In den frisch nutzungsgenehmigten Räumen in der Baustelle des Nebengebäudes startete der /dev/tal e.V. das Elektroreparaturcafé neu, es gab den Nähtreff sowie Infos zur Entwicklung von Siebdruckwerkstatt oder Fotolabor für alle. Am Container der Mirker Schrauba wurden unter Pavillons Fahrräder repariert und die Führungen durch die Gebäude waren allesamt ausgebucht. Und mit Regenschirmen und -jacken kam sogar die Führung über die Flächen des Utopiastadt-Campus zustande.

Offenbar besteht also beides: Reges Interesse an den Vorgängen in Utopiastadt und eine gewisse Hürde, diesem Interesse nachzugehen – es sei denn, es gibt die explizite Einladung dazu. Die möchte ich an dieser Stelle gerne noch einmal ganz deutlich aussprechen: Kommt vorbei! Wir sind offen! Natürlich wissen wir, dass es seltsam sein kann, einfach montagmittags in der Coworking-Etage oder der Sanierungswerkstatt zu stehen und zu fragen, was gerade so läuft. Deswegen haben wir ganz viele offene Termine für Euch: Den Utopiastadt-Jour fixe für den regelmäßigen Austausch über alles, was konkret vor Ort läuft. Das Forum:Mirke gemeinsam mit anderen Quartiersgestalter:innen. Die Mirker Matineé mit Nähtreff und den Reparaturcafés. Den Radverleih, die Gartengruppe, den wöchentlichen Sanierungs-Workout undundund – alle sind offen für engagierte Mitstreiter:innen ebenso wie für interessierte Nutzer:innen von außen. Also, habt keine Scheu – kommt vorbei: https://www.utopiastadt.eu/termine


Erstveröffentlicht am 13.04.2023 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/in-der-utopiastadt-sind-gaeste-jederzeit-willkommen_aid-88421973

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Logbuch

Studium experimentale

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« regelmäßig eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von Boris Bachmann und Matthias Wanner:

Logbucheintrag 0.40

Ein Klassiker in Utopiastadt: Das Telefon klingelt, und eine Studentin fragt nach einem Interview für ihre Bachelorarbeit über die Motivation der Ehrenamtlichen in Utopiastadt. Oder ein Uni-Mitarbeiter will wissen, ob Utopiastadt in einem Förderprojekt zu nachhaltigen Lebensstilen als Praxisparterin und »Ort der Möglichkeiten« dabei ist. Anfragen wie diese trudeln seit über zehn Jahren regelmäßig ein. So regelmäßig, dass bereits 2016 ein eigenes Modul dafür geschaffen wurde: die Coforschung. Das Ziel: Die Praxis, also der utopistische Alltag, und die Forschung befruchten sich wechselseitig und arbeiten auf Augenhöhe zusammen. So erhält Forschung konkrete Relevanz und die Praxis wertvolle Anregungen, Modelle und Erkenntnisse. 

Schnell entstand ein monatliches offenes Treffen, in dem aktuelle Studienarbeiten vorgestellt, entwickelt und diskutiert wurden. Die Themenbreite reicht von landschaftsplanerischen Entwürfen für den Utopiastadt Campus, soziologischen Gedanken zum »Recht auf Stadt« bis hin zu ökonomischen Geschäftsmodellen einer Energiewende im Mirker Quartier. Seit 2016 sind über 45 solcher Arbeiten entstanden. Damit die Arbeiten nicht in der (digitalen) Schublade verstauben, gibt es dazu kleine Steckbriefe auf der Homepage des Quartier Mirke.

Neben diesen Einzelprojekten wurde mit viel Herzblut frühzeitig damit begonnen, gemeinsame Forschungsprojekte aufzubauen. Eine intensive Partnerschaft entwickelte sich vor allem mit dem Wuppertal Institut und der Uni Wuppertal, hier insbesondere dem Zentrum für Transformationsforschung und Nachhaltigkeit (transzent). Seither geben sich Forschende in Utopiastadt die Klinke in die Hand. Der Draht in die Schreib- und Denkstuben der Wissenschaft ist kurz, nicht nur bei großen Begriffen wie »Transformation« und »Nachhaltigkeit«. Die Kooperation liefert auch viel Futter für den Anspruch von Utopiastadt, ein Experimentierraum zu sein. So wurde das Format des Forum:Mirke weiterentwickelt und in zwei Containern auf dem Campus entstanden zeitweilige offene Ausprobier- und Ausstellungsräume. Für die große Logistikhalle wurden in dem  bundesweiten Blaupausen-Wettbewerb dutzende hochkarätige Szenarien entwickelt. Und – last but not least – hätte es den Solar Decathlon Europe ohne diese langjährige Zusammenarbeit wohl auch nicht in Wuppertal gegeben. 

So werfen Utopiastadt und Forschung sinnbildlich die verschiedensten Ingredienzien in die Reallabor-Petrischale, beobachten Reaktionen und mischen bei Stadt- und Gesellschaftsentwicklung mit. Neuerdings auch in Kooperation mit dem bundesweiten Netzwerk Immovielien, einem Verein zur Förderung gemeinwohlorientierter Immobilien- und Quartiersentwicklung. Mehr Info gibt’s auf der Webseite von Utopiastadt. Oder einfach dabei sein beim nächsten Coforschung:Kolloquium am 16.3. von 10:15 bis 12h. Vorgestellt werden eine Untersuchung zur Verringerung des motorisierten Individualverkehrs im Mirker Quartier und die Analyse, wie sich das Stadtmachen-Engagement im Quartier seit 2006 entwickelt hat.


Erstveröffentlicht am 09.03.2023 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/utopiastadt-wie-sich-alltag-und-forschung-befruchten_aid-86269989

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Logbuch

Eine für alle

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von Amanda Steinborn:

Logbucheintrag 0.39

Der Frühling naht und wir sehnen uns danach das Leben wieder nach draußen zu verlagern. Eine kleine Oase, ohne Verkehr im Grünen, wo wir gemeinsam spielen, schaffen und uns raufen können. Und das Ganze am besten direkt vor der eigenen Haustüre. Wie utopisch ist das denn bitte? Sehr! Na dann – auf geht’s. 

Utopiastadt ist ja nicht nur der Mirker Bahnhof und die alte Gepäckabfertigung nebenan, welche bald ihre Tore als Gemeinschaftswerkstatt öffnet. Utopiastadt ist auch der Campus mit seinen run 40.000 qm drum herum. Da wonoch ein paar Häuser des Solar Decathon Europe stehen, die riesige Halle und auch das Zirkuszelt. Aber was passiert eigentlich mit der Fläche? 

Der Utopiastadt Campus soll ein Ort für viele sein. Viele die dort mithelfen, viele die dort Platz nutzen und viele die dort Ideen einbringen. Die Fläche für das Gemeinwohl gekauft worden, also mit dem Ziel die Fläche im Sinne der Bürger:innen zu entwickeln und nicht an die meistbietende Immobilienfirma zu veräußern. Der Utopiastadt-Campus ist also eine Immovielie: Von Vielen für Viele! Laut dem bundesweiten Netzwerk Immovielien geht es dabei um zivilgesellschaftliche Initiativen, die in Städten und ländlichen Räumen selbstorganisiert, solidarisch und in Kooperation mit Partnern Immobilien für sich und ihre Nachbarschaft entwickeln und dabei eine besondere Rolle in der Entwicklung lebendiger und zukunftsfähiger Stadtteile einnehmen. 

Sowohl das Netzwerk, als auch wir wissen jedoch: einfach ist das nicht. Wo viele Menschen mit am Werk sind, sind auch viele Bedarfe und wo viel Fläche ist, sind viele Kosten. So können wir als Eigentümer:innen der Fläche nicht einfach loslegen mit tollen Ideen und Projekten. Wir sind an die äußeren Umstände gebunden: Kredite und Zinsen müssen getilgt, laufende Betriebskosten gedeckt werden. Und das Dach der bunten Halle ist dann noch lange nicht saniert.

Als in erster Linie ehrenamtlich getragene Initiative, stehen uns nicht einfach so Mittel zur Verfügung. Daher können die Flächen nur Schritt für Schritt gestaltet und müssen Konzepte sorgsam und unter Beteiligung Vieler entwickelt werden, damit diese sowohl dem Anspruch an das Gemeinwohl, als auch an das Kapital gerecht werden. Das ist eine langfristige und mühselige Aufgabe, die wenig pompöse Wirkung nach außen hin hat und viele Ressourcen bindet. Ressourcen die sowieso schon knapp und zu großen Teilen in der Sanierung des Hauptgebäudes gebunden sind. 

Trotzdem geben wir unseren Traum einer Immoviele für Wuppertal nicht auf, aber um eine Fläche für Viele schaffen zu können, brauchen wir Euch! Spenden, ehrenamtliche Mitarbeit oder Ideen und Möglichkeiten zur Sicherung dringend benötigter Personalressourcen, um den Wandel gut gestalten zu können – all das ist uns immer willkommen! Eine gute Möglichkeit zum Einstieg bietet das nächste Forum:Mirke am 15.2. im Café der Alten Feuerwache: Dort berichten wir über die aktuellen Entwicklungen auf dem Utopiastadt-Campus. Kommt vorbei – eine Fläche für Alle kann es nur mit der Hilfe von Vielen geben.

Wer sich über das Netzwerk Immovielien informieren will: https://www.netzwerk-immovielien.de


Erstveröffentlicht am 09.02.2023 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/kolumne-aus-wuppertal-immobilien-und-immovielen_aid-84562647

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Logbuch

Fortschritt für Schritt

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« regelmäßig eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von David J. Becher:

LOGBUCHEINTRAG 0.38

Bei Führungen durch Utopiastadt habe ich viele muntere Antworten auf die Frage, was Utopiastadt eigentlich sei. Im Zweifel: Ein andauernder Gesellschaftskongress mit Ambitionen und Wirkung.

Aber gelegentlich sitze ich selber da und frage mich: Was ist das hier eigentlich? Ein Arbeitsort für die Kreativwirtschaft? Sicher, hier gab es Wuppertals ersten Coworking-Space, lange, bevor es anderswo klassisches Geschäftsmodell wurde. Und viele Menschen, die Ihr Geld in der Kreativwirtschaft verdienen, wie in der Malerei, dem Schauspiel, im Design oder mit Filmen, haben hier gearbeitet oder tun es noch. Also ist Utopiastadt ein Arbeitsort für die Kreativwirtschaft. Aber ist sie nicht viel mehr ein Stadtentwicklungszentrum? Hier haben engagierte Menschen das Forum:Mirke ins Leben gerufen. Eine Quartierskonferenz mit Leuten, die sich aktiv an der Gestaltung des Viertels und seiner Entwicklung beteiligen, oder sich gerne daran beteiligen möchten. Nach ersten Einzelveranstaltungen ist daraus ein regelmäßiges Treffen geworden, Bäume am Carnaps-Platz wurden vor der Fällung gerettet, die Verkaufsabsichten für wichtige Orte wie die Diakoniekirche oder die Gold-Zack-Fabrik wurden frühzeitig in die öffentliche Quartiersdebatte gebracht oder gemeinsam mit der Stadtverwaltung ein Quartiersfonds mit Mitteln der Städtebauförderung ins Leben gerufen. Und natürlich ist auch die Entwicklung der Flächen des Utopiastadt Campus immer wieder Thema im Forum:Mirke. Also ist Utopiastadt klar ein Zentrum für Quartiers- und Stadtentwicklung. Oder vielleicht doch eher ein Schutzgebiet für Zukunftsflächen? Es war lange und mühsame inhaltliche Arbeit, die Flächen des Utopiastadt Campus für eine wirklich freie und wirklich am Gemeinwohl orientierte Gestaltung zu sichern. Dabei war das Großprojekt Solar Decathlon Europe am Ende eine durchaus entscheidende Hilfe. Umgekehrt allerdings hätte es wohl niemals ein solches Projekt in Wuppertal gegeben, wäre die Entwicklung der Flächen vorher ihren klassischen Investoren-Rendite-Gang gegangen. Stattdessen gab es die Expedition:Raumstation, ein spannendes Forschungsprojekt zu urbanen Entwicklungsprozessen, jetzt sind die Flächen Heimat des Livig Lab-NRW, eines weiteren großen, landesweiten Forschungsvorhabens – und zukünftig weiter Experimentierfeld für ganz neue Forschungs- und Entwicklungsideen. 

Dass Utopiastadt zudem noch Trassencafé, Gemeinschaftswerkstatt, Bühne und Veranstaltungsort, Bienenheimat oder einfach mal offener Platz für alle inmitten in dichter Besiedelung ist, erscheint da fast wie eine Randnotiz. Und ich gebe zu, das überfordert mich regelmäßig. Doch dabei dämmert mir, was Utopiastadt für mich ist: Ein Fortschritts-Ort. Und zwar nicht herkömmlicher Fortschritt als Wohlstands- oder Technologievermehrung. Sondern Fortschritt in der direkten Wortbedeutung: Einen Schritt weiter. Und dann noch einen. Schritt für Schritt. So komme ich auch hinter der unbändigen Vielfalt hier her. Dabei ist Utopia der Weg. Und Stadt das Ziel.


Erstveröffentlicht am 12.01.2023 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/suche/utopiastadt+logbuch

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Logbuch

Bitte wenden

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« regelmäßig eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von Benedikt Matthes und David J. Becher:

Logbucheintrag 0.37

Seit 2019 stehen drei Car-Sharing Fahrzeuge direkt vor Utopiastadt. Vergangene Woche ist eine Mobilitätsstation an der Wiesenstraße eingeweiht worden. Noch mehr Car-Sharing, zusätzlich Lastenradparkplätze – und eine Bushaltestelle direkt davor.

Doch während sich Car-Sharing und Fahrradinfrastruktur zwar langsam, aber stetig nach vorne entwickeln, scheint der ÖPNV oft auf der Stelle zu treten. 

Und steckt in einem Dilemma: Zu viel Bedarf, zu wenig Ressourcen. Hiesige Lokalmedien berichten überproportional oft über Schwebebahnausfälle. Weniger Busse aufgrund von Personalmangel sind sogar schon strukturell eingearbeitet. Und doch fallen immer wieder auch kurzfristig Fahrten aus oder verschieben sich durch deutliche Verspätungen. Und wenn der Stau auf der Gathe zuverlässiger planbar ist, als eine Busverbindung ins Büro, wird es für den ÖPNV schwierig, in relevantem Maße zur notwenigen Verkehrswende beizutragen.

Kann hier Digitalisierung kurzfristig helfen?

Es gibt eine WSW-App, es gibt einen Twitter-Kanal und sogar Radio Wuppertal berichtet über aktuelle Ausfälle. Doch leider sind die Informationen dort oft nicht so vollständig und nicht so passgenau, dass sie zumindest bei einer spontanen Umplanung helfen.

Von diversen Tagen der offenen Tür bei der WSW wissen wir, wie eng der Wuppertaler ÖPNV inzwischen digital überwacht und begleitet ist. Zwei Systeme lassen genau nachvollziehen, wo sich gerade welcher Bus befindet: Zum einen gibt es im Cockpit eines, welches den Busfahrer*innen erlaubt, auf den Anzeigen innen und außen die korrekten Linien und ihre Haltestellenverläufe anzuzeigen. Dieses System, die »init«, wie sie von den Busfahrer*innen genannt wird, hat einen Uplink in die Leitstelle der WSW, samt Positionsangaben. Zum anderen verfügen die Router, welche in den Bussen (in den Schwebebahnen noch nicht) das WSW-LAN für die Fahrgäste bereitstellen, über einen GPS-Chip, welcher die Standortdaten sekündlich ans Rechenzentrum des Dienstleisters tal.de überträgt. Der wiederum kann diese Daten auf einer Karte darstellen, zu der die WSW Zugang hätten. Die WSW sollten also jeder Zeit wissen können, wo genau welcher Bus unterwegs ist. Nun stellt sich die Frage: Wo ist nun die mangelnde Schnittstelle, diese Daten in Echtzeit an die Fahrgäste zu bringen, die sie unmittelbar benötigen?

Eine Stadt braucht einen verlässlichen Nahverkehr. Und natürlich sind Schwebebahnen und Busse, die wie geplant fahren, am besten. Aber das kann schiefgehen, weder Menschen noch Technik sind perfekt. Also braucht es dazu verlässliche Kommunikation. Auch hier gibt es schon gute Ansätze. Aber das geht noch offener! Im /dev/tal e.V. befassen wir uns schon immer mit offenen Daten und der Kommunikation dazu. Und fragen uns: Wie offen kann die WSW mit ihren Daten umgehen, damit nicht nur in irgendeinem Rechenzentrum das Wissen rattert, wo gerade der nächste Bus ist – sondern jederzeit bei allen Nutzer:innen des ÖPNV? Auf dass die Verkehrswende im Straßen- wie im Datenverkehr zügig voran komme.


Erstveröffentlicht am 08.12.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/suche/utopiastadt+logbuch

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Logbuch

Ist das Müll oder funktioniert das noch?

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« regelmäßig eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von Konrad Tempe und David J. Becher:

Logbucheintrag 0.36

Was Müll ist, ist relativ. So waren Röhrenfernseher in den 1960er Jahren ein Luxusgut, jetzt gelten sie als veraltetet, wurden entsorgt und gegen Flachbildschirme ausgetauscht. Ein weiterer Aspekt ist Mode: So sind manche Marken zeitweise hip oder angesagt, sobald sie aber als unmodern oder uncool gelten, werden die Markenartikel schnell aussortiert oder entsorgt. Auch kann das Verständnis von Müll abhängig von Einkommen und Vermögen sein. Ist z.B. ein hochwertiges Produkt leicht defekt, dürfte eine Person mit viel Geld dieses schneller wegwerfen. Eine Person mit wenig Geld wäre in derselben Situation vermutlich eher bereit, sich um eine Reparatur zu kümmern. Auch räumlich gibt es Unterschiede im Verständnis von Müll. Zu denken sei etwa an Unterschiede zwischen Staaten oder zwischen ärmeren und reicheren Stadtteilen derselben Stadt.
Letztere kann man oft daran unterscheiden, was als Sperrmüll an die Straße gestellt wird. Somit sagt Müll immer auch etwas über die Gesellschaft aus, die ihn produziert. Und über zwischenmenschliche Verhältnisse: Was manche als Sperrmüll ansehen und entsorgen möchten, ist für andere wertvoll.
Die Herausforderung besteht darin, beide Perspektiven zusammenzuführen. Auch, um Ressourcen zu schonen: Wenn ein bereits hergestellter Gegenstand länger genutzt wird und nicht neu hergestellt werden muss sowie der mit der Entsorgung verbundene Aufwand entfällt, wird eine Menge Material und Energie gespart.

Wie kann eine Weiternutzung von unbenutzten Sachen erfolgen? Bei uns ist die Givebox wieder da, hilfreich sind auch die verschiedenen Bücherschränke in der Stadt. Dort sind die Kapazitäten jedoch begrenzt. Größere Mengen noch brauchbarer Dinge nehmen z.B. Second-Hand-Kaufhäuser an, wie das Brockenhaus oder das Kaufhaus der Kleinen Preise. Auch gibt es Tausch- oder Verkaufsmöglichkeiten wie Kleiderbörsen oder Flohmärkte. 
Nicht mehr benötigte aber noch essbare Lebensmittel können in Foodsharing-‚Fairteiler‘ gelegt werden. Diese öffentlichen Kühlschränke finden sich z.B. im Café Hutmacher oder am Arrenberg. Noch bequemer geht es per Foodsharing.de, dort online angebotene Lebensmittel werden von Interessierten sogar vor Ort abgeholt.
Eigentlich wäre auch der Sperrmüll eine gute Gelegenheit, als ‚Quartierstauschbörse‘ zu dienen. Kaum eine Studi-WG, die nicht mit Sofa, Küchenstühlen oder diversen Regalen vom Sperrmüll ausgestattet ist. Aber auch in gediegeneren Einrichtungen stehen oft originelle Wohnaccessoires, die beinahe in der Müllpresse gelandet wären. Und im Café Hutmacher steht kein Möbel, das nicht zuvor irgendwo anders lange Dienste geleistet und teilweise seinen Weg direkt vom Straßenrand in den Bahnhof gefunden hat.

Dabei gibt es allerdings noch ein entscheidendes Problem: Das Einsammeln und Weiternutzen von Sperrmüll stellt in Wuppertal eine Ordnungswidrigkeit dar, die mit mindestens 50 Euro geahndet wird. Ordnungsgelder gegen die Weiternutzung wertvoller Dinge – hier besteht dringender Handlungsbedarf, dies zu ändern!


Erstveröffentlicht am 10.11.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/wuppertal-kolumne-ist-das-muell-oder-funktioniert-das-noch_aid-79684821

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Logbuch

Vom Geben

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« regelmäßig eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von David J. Becher:

Logbucheintrag 0.35

Seit sehr langer Zeit werden wir immer wieder gefragt, wo denn die Givebox geblieben ist: Der Spind, in den Menschen Dinge hinein tun können, die sie nicht mehr brauchen, damit andere diese Dinge mitnehmen und gebrauchen können. Eigentlich eine einfache Sache. Eigentlich … 
Dieses ‚Eigentlich‘, das so viele Anfragen an Utopiastadt durchzieht, hat Erich Kästner einst gut ausgeführt: »Es gibt nichts Gutes, außer, man tut es.« Und jetzt ist Thomas aufgetaucht, der mit einer utopiastadt-kompatiblen Beharrlichkeit so lange nachgehakt hat, was er tun kann, damit eine neue Givebox an den Start kommt, bis er an den richtigen Stellen gelandet ist. Jetzt bereitet er mit weiteren  Utopist:innen alles dafür vor, dass bald wieder eine Givebox an der Trasse steht!

Was mich dazu gebracht hat, mir mal wieder Gedanken über das Geben an sich zu machen. Eine Givebox ist ein guter Ort, um die vorzeitige Verwandlung von Nützlichem zu Abfall zu verhindern. Was aber ist mit der Hingabe von Arbeit, dem Bereitstellen von Räumen, dem Teilen von Wissen? 

In vergangenen Jahren ist mir gelegentlich die Frage gestellt worden, warum meine Arbeit in Utopiastadt nicht bezahlt würde. Mehr noch: Es wurde unterschwellig kritisiert, dass man solche Arbeit unentgeltlich zur Verfügung stellt. Worin ich unter Anderem eine seltsam verschobene Wertschätzung von Arbeit sehe: Wird sie unentgeltlich erledigt, gilt sie rasch als minderbewertet. Geben ohne direkten Gegenwert, also Schenken, ist gerade noch zu konkreten Anlässen vorgesehen, aber damit auch mindestens mit dem Gegenwert konventioneller Konformität belegt. Einfache Hingabe von Zeit, Leistung oder Dingen sorgt hingegen bei genauerer Betrachtung oft für Irritation. Aber wonach bestimmen wir eigentlich den Wert all unserer gesellschaftlichen Leistungen? Warum verdient eine Kindergärtnerin weniger als eine Studienrätin? Noch seltsamer: Warum verdient eine Studienrätin weniger als ein Studienrat? Und um es richtig kompliziert zu machen: Warum verdienen wir überhaupt etwas für unsere Arbeit? Oder umgekehrt: Warum müssen wir erst arbeiten, um etwas zu verdienen? 

Dabei will ich gar nicht auf den schon erfreulich breit diskutierten Ausweg des bedingungslosen Grundeinkommens hinaus. Sondern auf die Frage des bedingungslosen Gebens: Wir leben hier in einer ausgeprägten Überflussgesellschaft. Und ich persönlich habe grundsätzlich mehr als genug zur Verfügung. Das fühlt sich nicht immer unmittelbar so an, aber genau besehen bin ich weit entfernt von jeglichem Mangel.
Also arbeite ich in Utopiastadt mit all den Ressourcen, die mir nebenbei zur Verfügung stehen, an einer besseren Gesellschaft. Einfach so. Mit Hingabe. Im sprichwörtlichen Sinne. Dafür erwarte ich zunächst nichts, Bezahlung schon gar nicht, aber auch nicht Dank, Anerkennung, Sonderstellung, oder gar die in der Apostelgeschichte beschworene Seligkeit. Zunächst. Denn etwas erwarte ich schon – doch auch das nur, insoweit ich da selber Hand anlegen kann:
Eine bessere Gesellschaft.


Erstveröffentlicht am 13.10.2022 in der Printausgabe der WZ:
https://www.wz.de/nrw/wuppertal/stadtteile/elberfeld/kolumne-aus-wuppertal-es-gibt-nichts-gutes-ausser-man-tut-es_aid-78231863

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Logbuch

Ein Jahr auf einem Spielplatz für Erwachsene

Seit März 2021 erscheint in der Reihe »Logbuch Utopiastadt« alle 14 Tage eine Kolumne aus Utopiastadt im Wuppertaler Lokalteil der Westdeutschen Zeitung. Und hier auf der Seite.

Diese Kolumne ist von Frieda Langmaack:

Logbucheintrag 0.34

1.05.2022, 15:45 Uhr: Ich renne schreiend durch das Haus meiner Eltern in Dortmund und habe Freudentränen in den Augen. Warum? Ich habe gerade per Telefon eine Zusage für meinen Bundesfreiwilligendienst bei Utopiastadt erhalten. Und so kommt es, dass ich ein paar Monate später alles in meiner Heimatstadt zurücklasse und nach Wuppertal ziehe.

Eine konkrete Vorstellung, was diese Utopiastadt genau ist, habe ich nicht, aber was ich erlebe, als es endlich losgeht, übertrifft alle meine Erwartungen. Beschreiben könnte ich dies jedoch nicht so einfach und vermutlich werde ich auch in einem Jahr nicht in der Lage dazu sein. Die passendste Bezeichnung, die mir nach meinen ersten vier Tagen einfällt, ist folgende: Ein Spielplatz für Erwachsene. Der Mirker Bahnhof ist ein Ort, an dem Dinge ausprobiert werden können ohne die Angst zu haben, einen riesigen Einlauf zu bekommen, wenn mal ein Fehler passiert. Sei es, dass man sein eigenes Fahrrad im Reparaturcafé wieder in Schwung bringt, einen Garten bepflanzt oder die Verkleidung einer Wand abreißt, die Einstellung dabei ist eigentlich immer die gleiche: Einfach mal machen. Und genau das ist es, was ich nach einer Jugend in der Pandemie, in der fast alles, was ich vorhatte, ins Wasser gefallen ist, so sehr genieße. Dadurch werden mir Möglichkeiten gegeben, mich zu entfalten und meine Grenzen kennenzulernen. Statt mich vom Abiturstress direkt in den Lernstress von irgendeinem Studium zu stürzen, ist Utopiastadt fern von jeder Alltagssituation vermutlich genau die richtige Anlaufstelle für Personen wie mich, die überhaupt keine Ahnung haben, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen.

Natürlich sind auch mühselige Arbeiten dabei, wie zum Beispiel, dass viel von A nach B geschleppt werden muss und dabei schon klar wird: Das wird morgen einen fiesen Muskelkater geben. Aber wie Alex immer so schön sagt: »Geteiltes Leid ist halbes Leid«. Und damit hat er Recht. Wenn gemeinsam angepackt wird, ist die Erfüllung und Freude, wenn eine Aufgabe geschafft ist, danach umso größer. Ich habe nach der bisher kurzen Zeit den Eindruck, dass genau dadurch hier eine Gemeinschaft aus Menschen besteht, die alle mit Herzblut dabei sind. Das merkt man jedem einzelnen an. So unterschiedlich die Personen, die ich bisher hier kennenlernen durfte, auch sind, genau das verbindet sie alle. Dennoch ist jeder Mensch hier auf die eigene Art und Weise speziell und wunderbar. Nicht nur manche Charakterzüge und Eigenheiten, sondern auch der Altersunterschied macht die Vielfalt aus. Es ist möglich, mit Personen jeden Alters interessante Gespräche zu führen, ohne das Gefühl zu bekommen, von oben herab als das Kind gesehen zu werden.

Durch all diese Tatsachen besteht in der Utopiastadt eine Atmosphäre, die man so sonst nur sehr selten spürt. Deshalb freue ich mich umso mehr, ein ganzes Jahr hier verbringen zu dürfen und hoffe, dass ich irgendwann ein Teil dieser Gemeinschaft der Utopist:innen werde.


Erstveröffentlicht am 08.09.2022 in der Printausgabe der WZ: https://www.wz.de/nrw/wuppertal/ein-jahr-auf-einem-spielplatz-fuer-erwachsene_aid-76468415